FAKT und FAKE ~2kb





Merkbefreit

"Franz, kommste mit in die Kantine, als erstes Essen gibt es heut Hackbraten und davor lecker Tomatensuppe. Wenn wir uns nicht beeilen, haben sich die Kollegen schon reichlich bedient und wir machen dicke Backen."
Paul Lebert schob seinen Stuhl zurück und leckte sich die Lippen.
Franz Reinesch, der ihm gegenüber saß, schaute auf:
"Mensch Paul, dir läuft ja schon das Wasser im Mund zusammen. Ich muss nur noch diesen Antrag auf Erteilung einer Merkbefreiung ablehnen. Wofür denken diese Schnorrer, ist unser Amt da? Sind wir vielleicht Dukatenesel? Ich komme dann gleich nach, schaue davor noch mal bei Müllerchen rein. Der lässt sich gar nicht mehr sehen, ist ja immer ganz eifrig bei der Sache. Nun ja, in seinem Alter geht einem die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand."
Reinesch beugte sich über seinen Schreibtisch und stempelte das vor ihm liegende Formular.
"Bis gleich Franz, ich halt dir deinen Platz frei. Aber denk dran, der Hackbraten und die Tomatensuppe sind schnell aus und als zweites Angebot gibt es Kohleintopf, der schmeckt wie eingeschlafene Füße."
Lebert stand auf und verließ das Büro, das er seit dreizehn Jahren mit seinem Kollegen Reinesch teilte.

"Siehste Franz, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Jetzt musste Eintopf essen."
Lebert stocherte mit der Gabel in den Resten seines Mittagessens herum und grinste Reinesch an.
"Haste noch bei Müller reingeguckt? Und was sagt der, kommt der wieder nicht zum Essen?"
"Nun ja, Müllerchen hat so getan, als ob er in seine Arbeit vertieft sei. Der hat mich gar nicht beachtet. So ein arroganter Kerl, bei Gelegenheit hänge ich dem einen rein. Morgen werde ich ihm mal richtig die Meinung sagen."
Reinesch setzte sich an den Tisch und machte sich über seinen Teller mit Kohleintopf her. Er schmatzte laut.
"Franz, dir scheint's ja zu schmecken?" Ohne auf eine Antwort zu warten, redete Lebert weiter: "Ja, der Müller, das ist ein richtiger Streber. Gestern hab ich bei ihm reingeschaut und nach dem Formular dreizehn Strich sieben gefragt. Da hat er nicht geantwortet und mich auch nicht angesehen. Ich hab einen Moment abgewartet, dann bin ich wieder gegangen. Hab das Formular über die Beschaffungsstelle angefordert. Ist mir doch egal, der Antragsteller kann ruhig warten, der faule Sack lebt eh auf unsere Kosten. Sozialhilfeempfänger, der auch noch krank spielt, die Typen hab ich gefressen!"
Reinesch nickte. Lebert setzte seinen Monolog fort:
"Du Franz, apropos Krankheit, morgen früh muss ich zum Arzt. Ich komm erst gegen elf Uhr ins Amt. Wenn der Kerl wegen dem Formular vorstellig wird, sag ihm, er soll in dreizehn Tagen wiederkommen. Der hat sowieso nichts zu tun, der soll ruhig ein bisschen laufen. Ich geh mal wieder nach oben, du kommst dann ja nach."
Reinesch unterbrach seine Mahlzeit und sagte:
"Nein Paul, ich gehe gleich nach Hause. Ich muss noch Überstunden abbummeln. Wir sehen uns dann morgen!"
"Alles klar, tschüss, bis morgen."

Als Lebert gegen elf Uhr am nächsten Tag das Amt betrat, standen viele seiner Kollegen auf den Gängen herum, sprachen miteinander und beachteten ihn nicht. Auch sein munteres: "Guten Morgen oder besser Mahlzeit!", blieb ohne Antwort.
In seinem Büro angekommen, fragte er Reinesch:
"Sag mal Franz, was ist denn hier los. Kein Kollege interessiert sich für mich, keiner grüßt mich und du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter."
"Ach Paul, du weißt es ja noch gar nicht, Müllerchen ist tot."
"Was? Müller? Das arrogante Arschloch. Der war sowieso schon jenseits von Gut und Böse. Was soll die künstliche Aufregung. Ist doch nicht der erste Kollege, der gestorben ist."
"Nun ja, Paul, es ist ja alles viel schlimmer. Ich bin heute Morgen in sein Büro gegangen, weil ich ihm die Meinung sagen wollte. Er saß da wie immer, den Kopf auf die Arme gestützt und brütete über seinen Akten. 'Eh, Müllerchen', habe ich ihn angesprochen. Er antwortete nicht. Da bin ich zu ihm hin, habe ihn angestupst und er ist zur Seite vom Stuhl gefallen. Ich wollte Erste Hilfe leisten, aber als ich ihn anfasste, fühlte ich, dass er schon kalt war. Ich bin sofort raus und habe laut 'Hilfe, Hilfe' geschrieen. Die Kollegen haben den Rettungswagen gerufen, aber die Sanitäter konnten für Müllerchen auch nichts mehr tun, er war wirklich tot. Nun ja, es kam noch viel schrecklicher. Der Arzt hat festgestellt, dass Müllerchen schon vor mindestens zwei Tagen gestorben ist und die ganze Zeit tot an seinem Schreibtisch gesessen hat. Also auch gestern, als ich bei ihm drinnen war und vorgestern, als du ihn nach dem Formular dreizehn Strich sieben gefragt hast. Ach es ist alles so schrecklich."
"Schrecklich, schrecklich, schrecklich! Komm wieder runter, Franz. Hast ja recht, muss echt ein Schock für dich gewesen sein. Müller, den vergessen wir mal schnell, hin ist hin. Aber nicht vergessen dürfen wir die Zeitungsschmierer, die machen doch aus jeder Mücke einen Elefanten. Die Arschlöcher werden jetzt wieder über uns herziehen, ich seh schon die gemeinen Schlagzeilen."

© Klaus Helfrich 2004

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